Presseschau - Erziehung: Eltern zwingen Kinder in falsches Schulsystem, warnt Hirnforscher

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FOCUS-Online-Interview mit Hirnforscher Hüther / FOCUS-Online-Redakteurin Kristina Kreisel

Die Schule bereitet kommende Generationen auf die Herausforderungen des Erwachsenenlebens vor. Hirnforscher Gerald Hüther hält das für einen Trugschluss. Die Erwartungen an die Institution Schule seien überzogen, das Grundverständnis der meisten Eltern falsch.

Corona bringt gerade alles, was im deutschen Bildungssystem schon seit Jahren schiefläuft, für die breite Öffentlichkeit maximal sichtbar auf den Seziertisch. Überall werden jetzt Möglichkeiten gesucht, damit sich das möglichst schnell ändert: Wie schaffen wir es, Unterricht digital statt analog im Klassenzimmer stattfinden zu lassen? Wie gelingt es den Lehrkräften trotz geteilter Klassen und massenhaft ausgefallener Stunden doch noch einigermaßen durch den übervollen Lehrplan zu kommen? Wo fehlen welche Tablets und Online-Lerntools?

Gerald Hüther lehnt diese Diskussion ab. Sie greife zu kurz, umschiffe konsequent die wirklich entscheidenden Fragen. Statt Methoden und Detailfragen auszuklamüsern, plädiert er dafür, die Corona-Krise dafür zu nutzen, das Schulsystem als Ganzes in Frage zu stellen und den aus seiner Sicht längst überfälligen Wandel zu forcieren.

Hirnforscher Hüther: „Schule, wie wir sie heute kennen, hat ausgedient“

Denn die Schule, wie wir sie heute kennen, habe ausgedient, sagt der Professor für Neurobiologie, der zu den bekanntesten Gesichtern in der deutschen Debatte um die Zukunft des Bildungssystems gehört. „Wir halten die Schule für den Ort, an dem Kindern alles beigebracht wird, was sie später für ein gelingendes Leben brauchen und schreiben ihr damit immense Bedeutung zu“, erklärt er im Gespräch mit FOCUS Online. „Dabei vermittelt Schule in ihrer jetzigen Form keine der Fertigkeiten, derer es in der veränderten Welt von morgen bedarf.“

Anders als im Industriezeitalter genüge es heute nicht mehr, sich Fachwissen anzueignen und dann auf Knopfdruck herunterzuspulen. Grundfertigkeiten wie Rechnen, Schreiben, Lesen, Literatur und Naturwissenschaften seien zwar weiterhin wichtig. „Aber für ein glückliches Leben reicht das, was Heranwachsende in den von uns geschaffenen 'Bildungseinrichtungen' lernen, nicht mehr aus.“

Was Eltern ihren Kindern beibringen sollten

Für ein „glückliches Leben“ maßgeblich seien in der modernen Welt des 21. Jahrhunderts andere Fähigkeiten: die sogenannten exekutiven Frontalhirnfunktionen, führt der Hirnforscher aus. Dazu gehören Kompetenzen wie Handlungsplanung, Impulskontrolle, Frustrationstoleranz, aber auch Verantwortungsgefühl, Empathie, die Fähigkeit zur Selbstreflexion, Offenheit für neue Erfahrungen und Beziehungen.

Eben solche Kompetenzen mache das Schulsystem in seiner heutigen Form aber schon in den ersten Schuljahren zunichte – weil Schule bislang auf Belehrung, Druck und Anpassung basiere. „Das führt dazu, dass sich viele Kinder schon in der ersten Klasse zwingen, ihre angeborene Endeckerfreude und Gestaltungslust und ihre natürlichen Bedürfnisse wie Bewegung, Kreativität und Selbstwirksamkeit so lange zu unterdrücken, bis sie verkümmern.“

Roboter und Algorithmen als Konkurrenten

Die Konsequenz aus Hüthers Sicht: eine Generation perspektivloser und unzufriedener Individuen. „Denn wem diese Freude einmal abhandenkommt, der ist in der neuen Welt verloren. Er arbeitet nur noch, weil er mit dem, was er leistet, etwas erreichen oder erlangen will. Anerkennung zum Beispiel, besonders gern in Form einer entsprechenden Entlohnung. Oder aber einen Karriereaufstieg.“

Eine in der post-industrialisierten Welt problematische Motivation: Algorithmen, künstliche Intelligenzen und Roboter seien zunehmend in der Lage, bloße Pflichterfüller zu ersetzen. „Und das nicht, weil sie billiger, sondern effizienter und zuverlässiger arbeiten“, argumentiert Hüther. „Sie brauchen weder Schlaf noch Urlaub, kennen keine Ermüdung, machen keine Fehler und sind in jeder Hinsicht produktiver als lebendige ‚Arbeiter‘, die diese Tätigkeiten für Lohn oder andere Gratifikationen übernehmen.“

Um Kindern das „glückliche Leben“ zu ermöglichen, das Eltern sich für sie wünschen, bedürfe es deshalb einer Neuformulierung der Frage, welche Fertigkeiten dafür tatsächlich wichtig seien und wie Bildung gesellschaftlich künftig definiert sein sollte. „Die Methoden, wie das umgesetzt werden kann, lassen sich dann aus diesen Zielvorgaben, beispielsweise dass künftig kein Kind mehr seine angeborene Freude am Lernen in der Schule verlieren darf, ableiten“, meint Hüther.

Hirnforscher sieht Eltern in der Pflicht

Primär entscheidend dafür, um diese Diskussion überhaupt in Gang zu bringen, sind aus Sicht des Neurowissenschaftlers die Eltern. „Die Politiker machen, was die Mehrheit will“, erklärt er. „Deswegen müssen sich die Eltern damit auseinandersetzen, was ihre Kinder wirklich brauchen, damit sie später ein erfülltes Leben gestalten können.“

Vielen falle das verständlicherweise schwer; sie sind selbst im System von heute aufgewachsen, ausgebildet und sozialisiert worden. In der Regel halten sie das gegenwärtige System, wenn auch mit Schwachpunkten behaftet, für das richtige. „Aber die Zeiten haben sich geändert. Das System, in das viele Eltern ihre Kinder zwingen, funktioniert nicht mehr.“

Für die Zukunft des Lernens, die Hüther vorschlägt, ist die Schule nur noch eines von vielen gleichwertig wichtigen Gliedern in der Bildungskette, die Kinder sukzessive an die Herausforderungen der Arbeits- und privaten Welt heranführen. „Wir brauchen einen Bildungscampus in jeder Stadt, wo die Schule bestimmte Aufgaben übernimmt“, erklärt er. „Aber zusätzlich braucht es auch eine Vielzahl weiterer Lernorte in Handwerksbetrieben, Start-Ups, Sportvereinen, in Unternehmen und Organisationen und vor allem zivilgesellschaftliche Akteure, die allesamt hinter dem stehen, was sie tun und Energie und Leidenschaft ausstrahlen.” Von ihnen lernten Heranwachsende dann von ganz allein, was es heiße, mit Freude tätig zu sein und zu lernen, worauf es im Leben ankomme, sagt Hüther.

„Müssen aufhören, Kinder als Objekte in einem unveränderbaren System zu sehen“

Dass das nicht von jetzt auf gleich umsetzbar ist, weiß er. Doch könne jedes Elternpaar, jede Lehr- und Erziehungsfachkraft schon heute anfangen, nicht mehr allein den Plänen und Vorgaben der Kultusministerien versuchen gerecht zu werden, sondern dem Kind, das ihnen anvertraut ist.

„Wir müssen Partnerschaften zwischen den Eltern, kompetenten Praktikern und den Heranwachsenden installieren. Wir müssen aufhören, Kinder als Objekte in einem unveränderbaren System zu sehen, sondern sie dazu befähigen, mit der ihnen durch unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung gegebenen individuellen Freiheit auch wirklich verantwortungsvoll  umzugehen.“

Digitale Medien: Fluch oder Segen?

Die digitalen Medien sieht der Hirnforscher dabei nur als bedingt hilfreich an. „Wer keine Lernlust mehr verspürt, dem nützen die digitalen Möglichkeiten gar nichts. 

Solche Schüler nutzen digitale Geräte primär als Instrumente zur Affektregulation“, sagt er. Sie dienen dann als Ersatz zur Befriedigung ihrer ungestillten Bedürfnisse.

So hätten Jungs oft einen starken Gestaltungsdrang und wollten zeigen, was sie draufhaben, illustriert Hüther. „Deshalb spielen viele so gern Ballerspiele.“ Mädchen hingegen hätten häufig das Bedürfnis, tiefe Beziehungen aufzubauen; wer sich schwer tue, diese im echten Leben zu finden, „der versucht, das im Internet ersatzweise mit 150 Facebook-Freunden auszugleichen“.

Hirnforscher Hüther hält das für hochgefährlich – weil die Kinder so das Meistern von Herausforderungen oder das Knüpfen von Freundschaften im analogen Leben verlernten und die ständige Befriedigung ihrer Bedürfnisse im Internet suchten. Darunter leidet oft auch das Interesse an den aus ihrer Sicht unwichtigen Schulinhalten. Die Sorge vieler Eltern aufgrund der zunehmenden Nutzung digitaler Medien, hält Hüther deshalb für begründet.

Selbstbestimmtes Lernen nachhaltiger als Frontalunterricht in der Schule

Für Kinder mit einer natürlichen Wissbegierde seien die digitalen Möglichkeiten hingegen „ein Segen“. Hüther erklärt: „Wer sich ernsthaft für die Fotosynthese interessiert, weil er verstehen will, wieso Pflanzen gedeihen oder eingehen oder wer wissen will, wie die Integralrechnung funktioniert, weil er im Architekten-Büro davon gehört hat, der profitiert stark.“ Diese Kinder setzten sich zu Hause hin und nutzten die entsprechenden Programme und Lernvideos. Dieses selbstbestimmte und selbstmotivierte Lernen sei dann auch deutlich beglückender und nachhaltiger als der Unterricht in der Schule, ist sich Hüther sicher. Das Problem: Die Mehrheit der Schüler gehört aus seiner Sicht zu denen, die ihre Lernlust schon längst verloren haben.

Die Freude am Entdecken und gemeinsamen Gestalten wieder neu zu entfachen, hält der Neurobiologe für schwierig, aber machbar. Dafür brauche es jedoch mehr als Lehrkräfte, die pflichtmäßig Lehrplänen hinterherhechelten.

Hüthers Appell fällt deshalb deutlich aus: „Deshalb brauchen wir Eltern, die sich Klarheit darüber verschafft haben und sich einig geworden sind, was für eine Art von Bildung sie sich für ihre Kinder wünschen. Dann können sie das auch von den Politikern einfordern.“ Nur dann hätten die Kinder der kommenden Generation auch die Chance auf das glückliche Leben, das sich ihre Eltern für sie wünschten, meint der Professor. Dass Corona dabei zum Brandbeschleuniger wird, hofft er.

Über den Experten

Gerald Hüther, Jahrgang 1951, ist Professor für Neurobiologie und gehört zu den renommiertesten und bekanntesten Hirnforschern der Republik. Er versteht sich als „Brückenbauer“ zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und gesellschaftlicher Lebenspraxis. Über seine Vision eines besseren Bildungssystems schreibt er in seinem aktuellen Buch.

Quelle: Erschienen online auf focus.de | 29.11.2020