Presseschau - "Für junge Leute sind die Corona-Einschränkungen ein Riesenproblem"

Zurück zur Presseschau - Übersicht

Jakob Hein: "Für junge Leute sind die Corona-Einschränkungen ein Riesenproblem"

Jakob Hein ist Schriftsteller und Kinder- und Jugendpsychiater. In seiner Praxis sieht er die seelischen Folgen der Pandemie für Jugendliche. Er ist dennoch optimistisch. 

Interview: Elisabeth von Thadden   31. Oktober 2020

"Vielleicht können wir es hinkriegen, den jungen Leuten entgegenzukommen", sagt Hein. In der Pandemie sei, neben allen anderen Belastungen, sogar deren "Freizeitausgleich superstark eingeschränkt".

"Für junge Leute sind die Corona-Einschränkungen ein Riesenproblem" 

Wir wollen die Virologen mit der Deutung der Lage nicht allein lassen. Deshalb fragen wir in der Serie "Worüber denken Sie gerade nach?" führende Forscherinnen und Forscher der Geistes- und Sozialwissenschaften, was sie in der Krise zu bedenken geben und worüber sie sich nun den Kopf zerbrechen. Die Fragen stellt Elisabeth von Thadden. Der Arzt und Schriftsteller Jakob Hein, 49, arbeitet als Kinder- und Jugendpsychiater in seiner Praxis in Berlin. Zuletzt erschien von ihm im August 2020 das Buch "Hypochonder leben länger". 

ZEIT ONLINE: Worüber denken Sie gerade nach, Jakob Hein? 

Jakob Hein: Über vieles zugleich, wie wohl jeder. Es gibt ein paar praktische Dinge, über die ich nachdenke. Darüber, wie es in der Praxis zugehen kann, über unser Hygienekonzept, über die Gesundheit der Mitarbeiterinnen, darüber, wann die Impfung kommt, weil es ja doch eine häßliche Krankheit ist, solche Sachen. Es wäre mir lieber, wenn sie niemand bekommt. In meiner Fantasie würde ich die Impfung gern als Weihnachtsgeschenk überreichen, ich stünde vor meiner Praxis mit 200 Impfdosen und würde jeden impfen, der vorbeikommt. Aber danach sieht es jetzt nicht aus, das bewegt mich doch sehr. 

ZEIT ONLINE: Sie sind Kinder- und Jugendpsychiater, was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie an diese Altersgruppe denken? 

Hein: Corona ist wie eine Art Pubertät für uns alle, in die wir geraten sind und aus der wir nicht so schnell wieder rauskommen. Lauter Kleidervorschriften und Einschränkungen umgeben uns, die wir einsehen sollen. Wir sollen auf Konzerte und Feiern verzichten, und es liegt nahe, sich dagegen zu wehren, auch wenn die Einschränkungen vernünftig sind. Sie treffen uns aber verschieden. Für junge Leute sind sie ein Riesenproblem. Die sind noch mit Suchen und Finden beschäftigt, sind noch nicht in stabilen Beziehungen und auch noch nicht stabil glücklich als Single. Das Suchen und Finden ist jetzt massiv eingeschränkt. Für Leute zwischen 16 und 30 ist es äußerst schwer, aufs Feiern zu verzichten. Für die Älteren ist es leicht zu sagen, dass die Jungen verzichten sollen. Aber als ich zwischen 14 und 23 war, bin ich jede Woche dreimal feiern gegangen. Das Ausgehen ist für dieses Alter wesentlich. 

ZEIT ONLINE: Was folgt daraus, außer der alten Leier, dass alle mehr Verständnis füreinander haben sollten? 

Hein: Alle Theorien, die davon augehen, dass die anderen blöd sind, sind zum Scheitern verurteilt. Diese Theorien sind selber blöd. Zu kurz gedacht, unzutreffend. Wir sehen doch zum Beispiel an den Fridays-for-Future-Leuten, dass die Jungen sich ausgezeichnet Gedanken machen. Großartig finde ich deshalb, wenn wir mit Widerspruch leben, in der Forschung und in der Öffentlichkeit. Er bringt uns weiter. Als die Kitas und Schulen wieder öffneten, hatten viele, auch ich, zuerst ein mulmiges Gefühl, aber es stellt sich heraus, dass die Öffnung das Infektionsgeschehen gar nicht besonders stark vorantreibt, ein Segen für Kinder und Eltern. Natürlich hat auch der Widerspruch seine Grenzen, unsachlich ist immer schlecht. Aber ich frage mich, wie es gelingen kann, gesellschaftliche Fliehkräfte in den Griff zu kriegen. 

ZEIT ONLINE: Was meinen Sie mit Fliehkräften? 

Hein: Alles, was die Polarisierung veschärft. Wer den Hass antreibt, tut niemandem gut, auch sich selbst nicht. Durch das Schüren von Hass oder Wut entsteht ja auch in denen, die es tun, eine Leere. Ich meine die Negativkampagnen, die Ismen, die Shitstorms, die alles in richtig und falsch zuordnen. Es könnte doch jetzt darum gehen, ob es klüger wäre, mit Degen oder Florett gegen Corona anzutreten, stattdessen geht es in Deutschland mit seinem genervten Negativtonfall schnell um Degen oder Atombombe. 

"Was ich sehe, ist Stress"

ZEIT ONLINE: Was können Sie, natürlich unter Wahrung der Schweigepflicht, über die spezifischen seelischen Corona-Auswirkungen sagen, die Ihnen Ihre jungen Patienten in die Praxis tragen? 

Hein: Ich bin zurückhaltend mit allgemeinen Aussagen, ich habe ja nur einen kleinen Einblick und eigne mich nicht für Schlagzeilen. Was ich sehe, ist Stress. Die Schulen sind aus Angst vor einem neuerlichen Lockdown nach einem halben Jahr Corona-Pause gleich in die Vollen gegangen. Die Lehrer wollen wenigtens zwei Klassenarbeiten schreiben, um zum Halbjahr corona-sichere Zeugnisse verpassen zu können. Auch der soziale Druck ist groß. Wer in seiner Abitur-Kursgruppe einen postiven Fall hat, wird gleich als Gruppe unter Quarantäne gestellt. Zugleich ist der Freizeitausgleich superstark eingeschränkt. Ich frage mich, ob das so sein muss. Mir sind keine Studien bekannt, die ein besonderes Infektionsgeschehen beim Feiern im Freien nachweisen. Nach allem, was wir wissen, sind Infektionsraten unter freiem Himmel überhaupt gering. Dem hätte man doch auch kreativ und befürwortend begegnen können. 

ZEIT ONLINE: Was ist kreativ und befürwortend? 

Hein: Vielleicht können wir es hinkriegen, den jungen Leuten entgegenzukommen. Wir könnten ihnen doch signalisieren, dass wir zumindest die Prämisse akzeptieren: "Verstanden, Ihr müsst feiern". Vielleicht kann man große Räume im Freien öffnen, das Olympiastadion, das Tempelhofer Feld. Ich will nur sagen: Es kommt auf das Signal an, den jungen Leuten nicht immer nur zu senden: Ist verboten, illegal, Polizei, Strafe. Wenn sich nachweisen lässt, was tatsächlich gefährlich ist, dann lässt sich darüber doch anders reden. 

ZEIT ONLINE: Und was kann der Psychiater zu Symptomen oder Krankheitsbildern sagen, an denen seine Patienten leiden? 

Hein: Für Patienten mit Angststörungen und Depressionen bedeutet Corona eine unendliche Geschichte, die nicht aufhört, schwierig zu sein. Sie kriegen angesichts der Zahlen einen Mordsschreck. Nun sind für sie die Ansätze zum Durchbrechen der sozialen Isolation noch schwieriger, und es liegt noch näher zu sagen: Ich möchte das Haus nicht verlassen. Eine wirklich schwierige Situation. Ganz interessant ist, dass sich manche Definition verschiebt. Zum Beispiel, was als Hypochondrie gilt: sich permanent die Hände zu waschen, war vor einem Jahr noch auffällig, jetzt ist es normal. Was natürlich nichts daran ändert, dass für Hypochonder das Leiden daran, von Krankheit bedroht zu sein, stark ist. 

ZEIT ONLINE: Ärztliche Ratschläge für ganze Corona-Gesellschaften klappen nicht, ich weiß. Aber ich wüsste trotzdem gern, was Sie antworten: Wie könnten wir alle auf die Biografien der jungen Generation der 16- bis 30-Jährigen sehen, die jetzt im Mehltau stecken und das Leben noch vor sich haben? 

Hein: Diese Generation hat bis eben angesichts des Klimawandels gesagt, wir Älteren sollten bitte aus Respekt mal auf die Einhaltung des Generationenvertrags achten und aufhören, den Planeten kaputt zu machen. Jetzt wird daraus etwas Wechselseitiges, weil Corona die Jüngeren dazu bringt, auf die Alten Rücksicht zu nehmen. Das ist doch positiv. Ich bin sicher, gemeinsam werden wir hervorragend durchkommen. Als ich jung war, haben wir aus guten Gründen auf die Atombombe gestarrt. Die Angst war real. Und wir haben sie überstanden. Jetzt lässt sich doch gerade etwas Interessantes lernen. Im Frühjahr haben alle gesagt, Achtung der Herbst wird kommen, und jetzt ist er da, wie vorhergesagt. So können wir uns auch die Klimakatstrophe vorstellen: Sie kommt wirklich. Vielleicht hilft uns die Pandemie, zu lernen, dass es so kommt wie vorhergesagt. Wenn im Horrorfilm der Mörder in der Küche mit Messern hantiert, liegt es nahe, nicht ewig abzuwarten, sondern dafür zu sorgen, dass die Messer zügig weggeräumt werden. 

ZEIT ONLINE: Ihre Gelassenheit hat nicht jeder. Hilft es im Corona-Mehltau, wenn man wie Sie im Osten aufgewachsen ist? 

Hein: In der Tat. Ich bin da prinzipiell optimistisch. Wer eine Ost-Biografie hat, weiß aus Erfahrung, dass man nachholen kann, was man im Mehltau verpasst hat. 

ZEIT ONLINE: Kein Grund zu besonderer Sorge? Das Nachholen kriegen eines Tages auch eine 16-Jährige, ein 22-Jähriger hin, die heute im Mehltau stecken? 

Hein: Davon bin ich fest überzeugt. In der Psychotherapie fokussieren wir uns auf das, was sich ändern lässt, und nicht auf das Unabänderliche. Wir können ja Möglichkeiten zum Nachholen schaffen, für alles, was die Jungen verpasst haben. Zum Beispiel könnten wir ihnen im nächsten Sommer, wenn es mit dem Impfen zu klappen beginnt, das Eurail-Ticket zu Schleuderpreisen geben. Insofern besteht kein besonderer Grund zur Sorge. Es ist aber trotzdem gut, wenn eine Gesellschaft sich um die Jugend Sorgen macht. Wir tun alle gut daran, aufeinander zu achten. 

Quelle: zeit.de | 31.10.2020