Presseschau - "Schulen fehlen Schutzkonzepte gegen sexuelle Gewalt"

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Viele Kinder und Jugendliche sind Opfer sexueller Gewalt. Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung fordert, dass Schulen Schutzkonzepte entwickeln. 

Es gibt genügend Warnsignale, in jeder Schule. Zum Beispiel dieses Mädchen, das sich fünf Jacken angezogen hat, mitten im Sommer, und das damit für verblüffte Blicke in der Schule sorgte. Oder den Drittklässler, der seine Ellenbogen auf die Schulbank drückte, weil er mit den Händen seinen Kopf stützen musste. Er war so müde.

Sie fielen auf in ihrer Schule, aber niemand kannte den Grund dafür. Es gab Nachfragen, das schon, aber sie blieben oberflächlich, sie führten nicht mal in Ansätzen zur Wahrheit.

Die Wahrheit ist schrecklich.

Die Schülerin hatte fünf Jacken angezogen, weil die wie eine Rüstung wirkten, die Sicherheit gibt. Der Achtjährige hatte die halbe Nacht voller Furcht wach gelegen. Die beiden sind Opfer sexuellen Missbrauchs in der eigenen Familie.

Fachleute haben diese Beispiele erzählt. Johannes-Wilhelm Rörig, der Unabhängige Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Missbrauchs, sagt: „Statistisch gesehen sind in jeder Schulklasse ein bis zwei Kinder von sexueller Gewalt betroffen.“

In den Schulgesetzen fehlt die Pflicht zum Schutzkonzept

Nur die nötigen Konsequenzen, sagt er, würden nicht gezogen. „In keinem Bundesland steht im Landesschulgesetz, dass Schulen verpflichtet sind, Schutzkonzepte einzuführen und anzuwenden.“

Auch in Berlin nicht.

Für Rörig ist das ein erheblicher Mangel. „Viele Schulen haben aus unserer Sicht noch nicht den zwingenden Zusammenhang zwischen Kinderschutz und Bildungsauftrag erkannt“, sagt er. Vielen Lehrern und anderen pädagogischen Mitarbeitenden sei nicht bekannt, „dass sexuelle Gewalt häufig Grund für schulischen Misserfolg ist“. Ein Kind, das Angst habe, dass der Vater nachts übergriffig werde, „schläft schlechter und schreibt dann die Matheklausur am nächsten Tag natürlich auch nicht optimal“. Oder versagt komplett.

Rörig kennt natürlich den Druck, unter dem Pädagogen stehen. „Ich sehe, dass die Schulen unter großer Belastung stehen, deshalb brauchen sie Unterstützung. Kein Schulsenat, keine noch so engagierte Schulleitung schaffen es ohne zusätzliche Unterstützung, Schulen dazu zu bringen, dass sie von betroffenen Schülern und Schülerinnen als Schutzraum betrachtet werden.“

Fachleute können die nötige Expertise liefern

Diese Hilfe könnten nur Fachleute liefern, Einrichtungen wie der Träger „Strohhalm“, der sich um die Probleme sexuellen Missbrauchs kümmert, der auch an Schulen und mit Pädagogen arbeitet. Allerdings in Berlin bisher nur mit wenigen. „Der Einstieg in ein Schutzkonzept ist die Fortbildung“, sagt Rörig.

Im Schuljahr 2019/20 gibt es in Berlin 690 öffentliche Schulen und 345 in freier Trägerschaft. Die Bildungsverwaltung kann allerdings nicht sagen, wie viele Schulen davon ein Schutzkonzept ausgearbeitet haben. Beim Canisius-Kolleg in Tiergarten ist die Antwort einfach: Das katholische Gymnasium in Tiergarten unter der Trägerschaft des Jesuitenordens hat schon vor mehreren Jahren ein sehr professionelles Präventions- und Schutzkonzept ausgearbeitet. Eine Reaktion auf den Missbrauch von rund 100 Schülern durch zwei Jesuiten in den 1970er und 80er Jahren. Am 28. Januar 2010, fast genau vor zehn Jahren, sind die Vorwürfe gegen die Jesuiten öffentlich geworden.

Bildungsverwaltung verweist auf eigene Anstrengungen

Aus Sicht der Senatsbildungsverwaltung ist die Unterstützung der Schulen und der Pädagogen, die Rörig fordert, durchaus gegeben. Die Verwaltung verweist bei einer aktuellen Tagesspiegel-Anfrage auf Beate Stoffers (SPD), die Bildungsstaatssekretärin. Die antwortete im November 2019 auf eine entsprechende Anfrage von Marianne Burkert-Eulitz, Mitglied der Grünen im Abgeordnetenhaus: „Berlin beteiligt sich (…) an der Initiative ,Schule gegen sexuelle Gewalt‘. Auf der Website www.schule-gegen-sexuelle-Gewalt.de wird kleinschrittig über die Erarbeitung eines Kinderschutzkonzepts informiert. Außerdem wurden allen Schulen die Informations- und Arbeitsmaterialien zum Thema zur Verfügung gestellt.“ 

Das Materialpaket gebe Schulen konkrete Hilfestellungen, um genaue Schutzkonzepte für ihren Standort zu entwickeln. Daneben habe „Strohhalm“ zusätzliche Mittel erhalten, um einzelne Schulen aktiv bei der Entwicklung eines Konzeptes zum Schutz vor sexueller Gewalt zu unterstützen sowie die Sensibilisierung und Qualifizierung von Lehrkräften zur Prävention und Intervention bei sexuellen Grenzüberschreitungen von Kindern und Jugendlichen auszubilden. Dann fügte sie eine Liste von Fortbildungen zu verschiedenen Themen im Bereich sexuelle Gewalt an.

Nach Bedarf, schrieb Beate Stoffers in ihrer Antwort, könnten weitere Veranstaltungen individuell vereinbart werden. Und zur nachhaltigen Prävention von sexualisierter Gewalt an Berliner Grundschulen werde das interaktive Theaterstück „Trau Dich!“ gefördert. Dieses Theaterstück sei das zentrale Element der bundesweiten Initiative zur Prävention des sexuellen Missbrauchs des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, mit der Berlin kooperiere.

In Berlin sei eine gute Entwicklung sichtbar

Die Bemühungen der Schulverwaltung erkennt Rörig durchaus an. „In Berlin ist eine gute Entwicklung sichtbar. Ich habe den Eindruck, dass man sich hier mit dem, was man schon hat, dem Berliner Netzwerk und auch mit den sehr guten Fachberatungen wie Wildwasser, Strohhalm oder Tauwetter, in einer fortgeschrittenen Situation befindet.“ Doch wenn man diese Bemühungen auf alle Schulen in der Stadt umrechne, würde auch in Berlin noch nicht genügend getan. „Die meisten Kinder erhalten hier noch keinen maximalen Schutz.“

Zum maximalen Schutz gehört auch das angemessen Verhalten von Lehrern, sie müssen Warnsignale erkennen und sich entsprechend verhalten. Aber wer diese Signale nicht kennt oder richtig interpretiert, kann nicht helfen. „Basiswissen ist der Grundanker“, sagt Rörig. „Basiswissen verschafft Sicherheit im Handeln.“ Dieses Wissen erhält man am besten durch Schulungen von Fachleuten.

Doch selbst wenn Lehrkräfte diese Signale erkennen, gibt es Probleme. „Bei einem Verdacht haben viele trotzdem Angst, auf ein Kind zuzugehen, weil sie denken, vielleicht verdächtigten sie jemanden zu Unrecht“, sagt Rörig. Lehrer müssten erst mal die Option Belastung durch Missbrauchserfahrungen mitdenken. Sie müssten wissen, wie man sich mit solchen Kindern einfühlsam unterhalte, um genau zu begreifen, ob der Verdacht begründet sei. „Es ist wichtig, dass man unabhängig von einem konkreten Notfall grundsätzlich weiß, wie man handeln muss“, sagt Rörig.

Schulen haben noch ganz andere Probleme

Das erschreckende Ergebnis einer Untersuchung von Experten lautet: Ein Jugendlicher benötigt oft sieben Versuche, bis ihn ein Erwachsener mit seinem Problem wahr- und ernst nimmt. „Es ist wichtig, dass sich Schulen mit der Lebensrealität von Schülerinnen und Schülern auseinandersetzen“, sagt Rörig.

Oft setzten sich Schulen vor allem aber mit einer ganz anderen Lebensrealität auseinander: ihren eigenen Problemen. „Schulen sind oft genug überlastet mit großen gesellschaftlichen Herausforderungen“, sagt Rörig. „Inklusion, Integration, Bekämpfung von Kriminalität, Drogen, Extremismus. Wenn man sich vor allem damit herumschlagen muss, dass man genügend Lehrkräfte für den Unterricht findet, dann fehlt oft die Zeit für andere Aufgaben.“

Aber das ist ja nur ein Teil des Problems. Der andere Knackpunkt lautet: Es gibt Schulen, die haben schlicht Angst vor einem Imageverlust, wenn sie sich dem Thema sexueller Missbrauch widmeten. „Uns wird immer wieder von der Angst vor diesem Imageverlust berichtet“, sagt Rörig.

Johannes-Wilhelm Rörig kennt diese Forderungen, sie kommen immer nach einem spektakulären Missbrauchsfall, aber für den „Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs“ haben sie auch auch „etwas leicht Populistisches“: höhere Strafen für die Täter. 

Natürlich, sagt Rörig, seien harte Strafen entsprechend der Schwere der Tat angemessen. „Aber die Androhung härterer Strafen reicht nicht aus, um sexuelle Gewalt nachhaltig zu bekämpfen.“ Der Blick der Politik dürfe sich nicht „bloß auf diesen Punkt verengen.“

Damit sich der Blick nachhaltig verbreitert, hat Rörig ein Positionspapier mit seinen Forderungen verfasst. Das Dokument haben alle politischen Entscheidungsträger erhalten, die in irgendeiner Weise mit dem Thema befasst sind. Am Freitag hat Rörig sein Positionspapier vorgestellt.

Ein Punkt ist ein Masterplan, den jedes Bundesland ausarbeiten sollte. In diesem Plan sollte klar festgelegt werden, dass die unterschiedlichen Ressorts zusammenarbeiten und den Kampf gegen Missbrauch wirksam koordinieren. Dazu sei aber erstmal nötig, die bisherigen Schwachpunkte bei der Missbrauchsbekämpfung aufzulisten und abzustellen. Zu diesem Masterplan gehören nach Rörigs Vorstellung auch ein Schutzkonzept für Kitas, Schulen und Einrichtungen, die mit Kindern und Jugendarbeit befasst sind.

Auch sollte jedes Bundesland einen Missbrauchsbeauftragen installieren. In Thüringen hat immerhin eine Staatssekretärin den Verantwortungsbereich „Kindesmissbrauch“ übernommen. In anderen Bundesländern ist noch gar nichts passiert. 

Eine Kampagne soll die Bevölkerung sensibilisieren 

Rörig fordert auch eine breit angelegte Aufklärungs- und Sensibilisierungskampagne, mit der gesamten Gesellschaft als Zielgruppe. Jeder solle die Signale erkennen, die von Missbrauch betroffene Kinder und Jugendliche aussenden. Für diese Kampagne sollte genügend Geld zur Verfügung gestellt werden. 

Rörig begrüßt grundsätzlich die Strafrechtsreform zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche, über die am 14. Oktober im Kabinett abgestimmt wird. Von Familienrichtern wird dabei eine höhere Qualifikation für diesen Bereich verlangt als bisher, ein Punkt, auf den Rörig nachhaltig gedrängt hat. Allerdings sagt er auch, „dass differenzierte Regelungen, die dem unterschiedlichen Unrechtsgehalt der einzelnen Taten gerecht werden, nicht aus den Augen verloren werden dürfen“. 

So müsse die „die wesentliche Entscheidungshoheit über das konkrete Strafmaß weiterhin bei den Gerichten bleiben“. Die Politik könne nur den Rahmen vorgeben, „der es den Strafgerichten ermöglicht, über jeden Einzelfall differenziert und in angemessener Form entscheiden zu können“.

Ermutigende Rückmeldungen aus der Politik

Der Unabhängige Beauftragte hat „schon einige ermutigende Rückmeldungen aus der Politik auf das Positionspapier erhalten“. Was das konkret bedeutet, wollte Rörig allerdings nicht sagen. Er wolle erst die Diskussionen der Politik abwarten. 

Sehr viel deutlicher wurde er bei einem anderen Punkt: Es bestehe hoher Handlungsbedarf. „Die Fallzahlen von Missbrauch sind ungebrochen hoch.“ Experten gehen davon aus, dass in Deutschland rund eine Million Opfer leben. Statistisch gesehen sitzt in jeder Schulklasse mindestens ein Kind oder ein Jugendlicher, der Missbrauch erlebt hat oder unverändert erlebt.

Quelle: tagesspiegel.de | 02.10.2020